Die repräsentative Demokratie ist in Deutschland, und wahrscheinlich auch in vielen anderen Ländern, am Ende ihres Entwicklungszyklus angekommen. Artikel, die sich mit den Fehlentwicklungen beschäftigen, sind Legion. Viele Menschen wenden sich inzwischen ab, gehen nicht mehr wählen, weil sie sich von den Parteien, trotz oder wegen vieler Wahlversprechen, nicht mehr vertreten sehen. Die Erkenntnis in einer Fasadendemokratie zu leben, ist inzwischen weit verbreitet.
Die Parlamente gerieren sich als geschlossener Verein und haben in den letzten Jahrzenten alles getan, um vom Wähler und auch von den eigenen Mitgliedern unabhängig zu sein. Die Mitgliedsbeiträge machen meist nicht mal mehr ein Viertel der Einnahmen der Partei aus. Trotz aller Krokodilstränen ist es der aktuellen Politik egal, wieviel Bürger wählen gehen. Selbst wenn es nur 20% wären, würden sie sich noch legitimiert fühlen.
Eine Veränderung des politischen Prozesses kann nur durch die Gesetzgebung beschlossen werden, also durch die Politiker selbst. Damit ist eine Veränderung aus sich heraus so gut wie ausgeschlossen. Denn wie heißt es so schön: “Wenn Du den Sumpf austrockenen willst, darfst Du nicht die Frösche fragen!”
Neue Parteien haben kaum eine Chance in die Parlamente gewählt zu werden. Und selbst wenn, durchlaufen sie sehr schnell einen Anpassungsprozess. Die Grünen sind nun eine 100 % Kriegspartei und auch die Linke hat sich in “Regierungsverantwortung” wie in Bremen, von ihren friedenspolitischen Zielen vollständig entfernt. Die Alternative für Deutschland war nie eine Alternative des Status Quo. Die Mechanismen des politischen Systems arbeiten ausgezeichnet, ersticken jeglichen Veränderungswunsch im Keim und/oder Formen neue Ideen in kürzester Zeit zum eigenen Vorteil um.
An diesem Punkt stellt sich die Frage nach einem wirksamen Mittel, um doch Veränderungen zu erreichen. Protestaktionen, Streiks und Demonstrationen hatten und haben immer nur einen kurzfristigen (was auch Jahre bedeuten kann) Effekt. Sie führten und führen zu Zugeständnissen der herrschenden Klasse(n), aber selten zu einer wirklichen Veränderung des politischen Systems. Die Ablösung eines politischen Systems war bisher meist durch gravierende äußere Umstände gekennzeichnet. Staatszusammenbrüche, Kriege und Revolutionen sind die bekanntesten Faktoren.
Hier kommt die Direkte Demokratie ins Spiel. Man darf ruhig fragen, ob wir ein Rentenniveau von 49,4 % hätten oder eins von 80 % wie in Österreich, wenn die Bürger mitbestimmen könnten? Man darf ruhig fragen, ob wir 100 Milliarden in die Rüstungskonzerne pumpen würden oder lieber den sträflich heruntergewirtschafteten Bildungsbereich für unsere Kinder unterstützen würden, wenn wir mitbestimmen könnten. Man darf ruhig fragen, ob die Verbrecher die geklauten Cum-Ex Milliarden oder die Millionen Schmiergelder für Maskendeals behalten dürften, oder ob sie diese zurückzugeben hätten an uns Steuerzahler und für ihre Verbrechen im Knast sitzen würden, wenn wir mitbestimmen könnten?
Die Einbeziehung der Bevölkerung in Entscheidungsprozesse, nicht nur durch eine wie auch immer geartete Beteiligung, sondern durch echte Mitbestimmung, steht noch aus. Die technischen Möglichkeiten, sowohl für einen Abstimmungsprozess, wie auch für einen guten Informationsfluss sind bereits vorhanden.
Aber die Angst ist groß vor der Bevölkerung. Leider nicht nur beim politischen Establishment, sondern auch bei der Opposition. Bei der Frage, ob man “das Volk” mitbestimmen lassen sollte, besteht eine seltsame Einigkeit in der Beurteilung. So klingen die Bekenntnisse der Partei die Linke zwar auf den ersten Blick gut, aber die Hürden für Beteiligungsprozesse sind auch bei ihnen so hoch angesetzt, dass man selbst bei einer Einführung keine großen Veränderungen erwarten kann. So hatte 2011 in Bremen ein Volksbegehren, mit großem Aufwand durchgeführt, zum Wahlrecht Erfolg. Aber bereits 2018 haben die Bremer Parteien (SPD, CDU, Grüne und Linke!) nach einer Schamwahlperiode die Uhr wieder zurückgedreht. Ein erneutes Volksbegehren scheiterte dann an der Frustrationsgrenze für einen neuen Kraftakt. So erzieht man die Befürworter des Volksbegehrens und macht deutlich, dass Volksbegehren, solange sie jederzeit parlamentarisch rückgängig gemacht werden können, keine Lösung darstellen.
„Die direkte Demokratie kann Gefahren bergen, wenn die Bürger über hochkomplexe Themen abstimmen“, Joachim Gauck.
Das Zitat von Gauck beschreibt eine weitere Befürchtung aller Seiten. Die unaufgeklärte Bevölkerung könnte “falsch” abstimmen. Der Bürger ist zu “dumm”. Einmal abgesehen davon, dass auch unaufgeklärte und “bildungsferne” Menschen ein sehr gutes Rechtsempfinden haben, kann dieser Angst doch durch entsprechende Aufklärung Paroli geboten werden. Nichts dürfte den Verfechtern der Direkten Demokratie fernerliegen, als ihre Forderung mit einem entsprechenden Programm zu untermauern.
Bisher hat keine Partei von nennenswerter Größe und Bekanntheit Direkte Demokratie gefordert. Zum einen widerspricht es ihnen natürlich, aber zum anderen ist der Umsetzungsprozess tatsächlich mit vielen Fragezeichen versehen.
So dürfte z. B. die Aufgabe eines Abgeordneten neu zu definieren sein. In erster Linie dient dann der Abgeordnete dem Bürger, in dem er die notwendige Aufklärungsarbeit über bevorstehende Gesetzesvorhaben übernimmt und im Idealfall auch Gesetzeswünsche der Bürger zur Eingabereife verhilft. Die Information der Bürger sollte auf digitalem und analogem Weg geschehen. Direkter Lobbyismus dürfte sich verschlechtern und es gäbe keinen Grund mehr für anschließende Versorgungsposten in der Industrie und anderswo. Damit dürfte die Attraktivität dieser Aufgabe sich immens verändern.
Auch die Vorstellung von der Rolle einer Partei wird sich grundlegend wandeln. Nicht die schönsten Wahlversprechen werden dann im Vordergrund stehen, sondern ernsthafte Angebote, wie man gesellschaftliche Probleme lösen will. Damit bleibt zwar die Charakterisierung, wie sozial oder konservativ bestehen, nicht aber der Widerspruch zwischen medialen Auftreten und realem Handeln.
Ein großes Aufgabenfeld ist auch die praktische Umsetzung. Digitale Abstimmungsplatformen wie die Democracy App dürften noch das Einfachere sein. Wie sind die notwendigen Informationen zu vermitteln? Wie nimmt man den “analogen” Teil der Bevölkerung mit, der sich beteiligen möchte?
Je mehr man sich mit dem Thema beschäftigt, je mehr Fragen gibt es. Aber auf der anderen Seite entstehen Lösungsansätze, die man bisher nicht im Fokus hatte. Neue Möglichkeiten tun sich auf.
Der Landesverband Bremen der Partei dieBasis beschäftigt sich schon seit längerem mit der Direkten Demokratie. Nach vielen Diskussionen hat sich der LV entschlossen, mit dem Angebot der Direkten Demokratie zur Bürgerschaftswahl 2023 anzutreten. Sollte es zu einem Parlamentseinzug kommen, werden alle Gesetzesvorhaben der Bremer Bevölkerung zur Abstimmung gestellt und die Abgeordneten werden dann dieses Votum im Parlament vertreten.
Die Direkte Demokratie ist ein Versuch, ein gesellschaftliches Experiment, ein Denkanstoß. Sie beinhaltet bei genauer Betrachtung mehr Chancen als Gefahren und sie hat dann eine Aussicht auf Erfolg, je mehr Menschen sich mit ihr beschäftigen und ihr Potential begreifen und kann damit eine Alternative bieten politische Veränderungen zu bewirken.