Die vielen Debatten, Artikel und Berichte über ein Verschleierungsverbot machen deutlich, dass es kein verbindliches Einordnungsmuster für das Phänomen der Verschleierung und der dahinter stehenden Bewusstseinsstruktur gibt. Alle möglichen Begrifflichkeiten werden wild durcheinander geschmissen, Alle fühlen sich missverstanden oder angegriffen und Alle sind natürlich völlig unschuldig und von ihrer persönlichen Wahrheit und Weisheit überzeugt.

Schon die Einordnung von Religion funktioniert nicht. Sowohl das Christentum wie der Islam sind monotheistische Religionen des mythologischen Bewusstseins. Ihre Kennzeichen sind u. a. biologische Hierarchien, absolute Wahrheiten und natürlich der Absolutheitsanspruch auf die alleinige Seeligmachung nach dem Tod.

In Ländern, in denen das rationale Bewusstsein die Oberhand gewonnen hat, wird den Religionen nur noch ein privater Status zugebilligt. Die Religion hat keinen primären Einfluss mehr auf die Konstituierung der Gesellschaft, da diese nun in der Hand der allgemeinen und der besonderen Rechtsprechung liegt. Menschen machen die Gesetze und Menschen sind sich im Idealfall der Relativität und Veränderbarkeit menschlicher Gemeinschaft bewusst. Konstituierend ist die Vorstellung der Gleichheit.
Natürlich können Vertreter und Gläubige mythologischer Glaubensvorstellungen am rationalen Gesellschaftsbildungsprozeß teilnehmen, aber die “absolute Wahrheit” ihrer Religion bestimmt nicht den Rahmen der gesellschaftlichen Ordnung. Manch fundamentaler Christ würde das vielleicht gerne ändern, aber er wird in unserer Gesellschaft nicht mehr gefürchtet. Man verspottet ihn als Religioten, als ewig Gestrige und bestenfalls akzeptiert man seinen Ritus als Folklore und überlässt die Religionsausübung der Privatsphäre.
In ihrem Inneren aber ist die christliche Religion weiterhin ein fundamentaler Gegensatz zur rationalen Rechtsprechung. Das Christentum bei uns ist aber ein gutes Beispiel, wie Integration und Verneinung funktionieren kann. Wir akzeptieren den privaten Glauben, betrachten die religiösen Texte nicht als Wahrheit, sondern im besten Fall als Metapher zur eigenen Weiterentwicklung und Verneinen den mythologischen Absolutheitsanspruch als bindend. Glaube ist Privatsache und muss dadurch nicht unterdrückt werden, sondern kann im Idealfall seine symbolische Kraft für den Einzelnen entfalten ohne die Gemeinschaft als Ganzes zu beherrschen. Der Grad des Rückfalls eines Individuums ins mythologische Bewusstsein ist jedem frei gestellt und führt im Allgemeinen nicht zu gesellschaftlichen Problemen.

Der Islam dagegen ist in seinem mythologischen Kontext zurzeit wesentlich vitaler als das Christentum und deshalb fürchten rationale Gesellschaften den Islam nicht zu Unrecht. Zudem kommt die Besonderheit, dass es im Islam keine großkirchlichen Strukturen gibt, die um Einfluss und Macht kämpfen. Zwar existieren verschiedene Glaubensströmungen (Sunniten, Schiiten usw.), aber auch diese sind keine geschlossenen Blöcke. Es gibt kein alleiniges rechtsprechendes Machtzentrum, was die Kontrolle noch schwieriger erscheinen lässt. Eine blutige, über Jahrhunderte sich ziehende Reformation wie im Christentum, hat es nicht gegeben. Einzelne Religionsführer sind frei in ihrer Interpretation, was der Willkür, auch noch auf Basis biologischer Hierarchien und “absoluter Wahrheiten”, Tür und Tor öffnet.
Selbstverständlich gibt es eine Unmenge Angehörige des islamischen Glaubens, die wie die meisten Christen auch, im rationalen Bewusstsein angekommen sind und eine Gesellschaftsordnung auf Basis rationaler Rechtsprechung der willkürlichen Auslegung mythologischer Wahrheit vorziehen. Zu ihrem Unglück gibt es aber auf dieser Welt Staatsformen, die den islamischen Glauben zur Grundlage ihrer gesellschaftlichen Gemeinschaftsbildung erklären und in ihrem mythologischen Absolutheitsanspruch, dies auch gerne anderen angedeihen lassen wollen. Und ihr weiteres Pech ist, dass die gewaltvollen, westlichen Interventionen einen maßgeblichen Anteil am Widererstarken dieser mythologischen Bewusstseinsstruktur haben. Die Kriege und Diebstähle der sogenannten westlichen Welt, also des Raubtierkapitalismus als Schattenseite des rationalen Bewusstseins, haben die Entwicklung in vielen Ländern wie z. B. Afghanistan, Irak oder Iran nachhaltig gestört, die Möglichkeit einer halbwegs friedvollen Reformation unterbunden und im Mangel einer lebbaren Alternative die Menschen zurück in die Arme eines mythologischen Glaubens getrieben.

Kommen wir zum Schleier. Er ist zum Symbol einer mythologischen Bewusstseinsstruktur gemacht worden, weil er biologischer Hierarchie und Verneinung der rationalen Gleichheit (Frau soll ihn tragen, Mann nicht) Ausdruck verleiht. Egal ob als Hidschab, Niqab oder Burka.

Im Prinzip ist er aber auch nichts anderes als das um den Hals getragene Kruzifix einer Christin. In einer Gesellschaft auf Basis rationaler Bewusstseinsstruktur ist der Schleier nur Ausdruck privater Religion und bedarf keiner Reglementierung, solange das Tragen eine individuelle, freiwillige Entscheidung ist.

Es ist die Vitalität des mythologischen Bewusstseins im Ausdruck durch den Islam, welches die Angst des rationalen Bewusstseins vor Unterdrückung und Willkür überwundener Herrschaftsstrukturen triggert. Ein religiöser Ausschließlichkeitsanspruch ist für das rationale Bewusstsein nicht akzeptabel und sollte es auch nicht sein. Wichtig ist, sich nicht mit dem Symbol eines mythologischen Glaubenssystems zu beschäftigen, sondern mit der dahinter stehenden Bewusstseinsstruktur.  

Wenn das erkannt ist und Religion und Symbol sauber eingeordnet werden kann, wird sich eine Diskussion über das Tragen eines Schleiers erübrigen. Dann werden wir den Schleier ebenso akzeptieren wie das Kruzifix, wo auch niemand mehr hinterfragt, ober wir es hier mit einem Erlösungssymbol oder der Darstellung einer unmenschlichen Folterpraktik zu tun haben.

Im Hinterkopf ist zu behalten, dass auch das rationale Bewusstsein nicht der Weisheit letzter Schluss ist, wie man an den Auswüchsen einer materialistischen Weltordnung deutlich erkennen kann. Die verschiedenen Bewusstseinsstrukturen liegen nicht nur in uns selbst im Clinch, sondern eben auch gesellschaftlich. Gerade in Zeiten, in denen die aktuelle Bewusstseinsstruktur in ihre negative Phase eintaucht oder eingetaucht ist, ist die Verheißung ins vermeintlich früher Bessere nicht weit. Das Neue kennt man nicht und wendet sich dann lieber der Vergangenheit zu.


TLDR: Die Verschleierung ist Symbol einer mythologischen Bewusstseinsstruktur und auf Grund der Krise des rationalen Bewusstseins triggert sie die Angst vor dem vermeintlich Überwundenen.